Maries Reise zum Mond

Marie steht am Abend in ihrem Lieblingspyjama auf dem Balkon im sechsten Stock. Eigentlich soll sie ihre Spielsachen wegräumen und dann ins Bett gehen. Doch statt die Seifenblasensammlung einzupacken, schaut sie auf die funkelnde Stadt, die vor ihr liegt wie ein Teppich aus gelben und roten Lichtern. Über ihr baumelt eine alte Lampionkette, unter der sich wie in den meisten warmen Sommernächten hunderte von Glühwürmchen tummeln.

„Das wär’s“, denkt sich Marie. „Einfach leuchtend durch die Gegend schwirren, in der Luft tanzen und Saltos fliegen.“

„Ihr seid so cool“, ruft sie den hellgrün-gelb glühenden Insekten zu. Und, als würden die Glühwürmchen Marie verstehen, schwirren sie in ihre Richtung.

„Ich wünschte, ich könnte auch so durch die Luft tollen wie Ihr.“

Dann passiert etwas Unglaubliches. Der Glühwürmchenschwarm sortiert sich neu und formt ein Herz. Marie reibt sich die Augen. Träumt sie etwa? Dann bilden die Glühwürmchen ein Sternenmuster und anschließend eine schielende Katze. Die Katze sieht so lustig aus, dass Marie laut lachen muss. Kurz überlegt sie, ob sie Mama und Papa rufen soll. Aber was wäre, wenn die Würmchen dann aus Angst wegfliegen? Nein, das will sie nicht riskieren. Also bleibt sie mit ihren neuen Freunden allein.

 „Ich würde auch so gern in der Luft schweben!“, ruft Marie noch einmal. „Hoch über den Wolken, zu den Sternen und rund um den Mond.“

Die Glühwürmchen formieren sich zu einem leuchtenden Pfeil gen Himmel und im Anschluss zu einem lachenden Gesicht. Sie haben Marie verstanden. Schnell ergreift sie ihre Chance und fragt: „Habt Ihr eine Idee, wie ich auch fliegen kann?“

Der wilde Haufen schwirrt zu den Seifenblasen auf dem Balkontisch. „Seifenblasen?“ Marie ist überrascht. Zögerlich greift sie nach einem der Fläschchen, öffnet es und pustet ein Dutzend schillernder Blasen in die Luft. Eine ist besonders groß. Dort huschen die Würmchen hinein, so dass Seifenblase immer größer wird. Als sie so groß ist wie ein Kinder-Motorradhelm schweben die Glühwürmchen mit der Blase über Maries Kopf. Maries Augen sind weit aufgerissen und ihr Mund steht vor Erstaunen ganz offen. Dann schweben die Würme langsam tiefer und stülpen ihr dann den Blasenhelm vorsichtig über den Kopf. Marie schließt schnell den Mund, muss dann aber kichern, denn die vielen Glühwürmchen um sie herum kitzeln an der Nase. Doch dem Helm macht das nichts aus.

Auf dem städtischen Balkon steht nun ein kleines Mädchen im Pyjama mit einem glänzenden Seifenblasenhelm auf dem Kopf. „Was für ein lustiges Bild das wohl sein muss“, denkt sich Marie. Auf einmal bemerkt sie, dass sie gar keinen Boden mehr unter ihren nackten Füßen spürt. Als sie an sich herunterschaut, sieht sie, dass sie schwebt! Marie freut sich und ruft „Juhuuuuuu! Fliegt mit mir zu den Sternen!“ Ihre Stimme hallt in dem Helm in einem überlauten Echo zu ihr zurück. Die Würmchen fliegen Loopings vor Freude und Marie schlägt ungewollt mehrere Purzelbäume.

Als sie die Arme ausbreitet, wird sie ganz schnell, als hätte sie Flügel mit Düsenantrieb.

Marie fliegt immer höher in die Luft und spürt ein Kribbeln im Bauch. Als sie die Arme ausbreitet, wird sie ganz schnell, als hätte sie Flügel mit Düsenantrieb. Je höher sie fliegt, desto kleiner wird die große Stadt unter ihr. Von hier oben sieht die Stadt aus wie ein Miniaturwunderland. Marie ist jetzt schon weit über den Wolken, die in der Nacht ganz grau schimmern. Es kommen immer mehr Glühwürmchen zu ihnen hinzu und zeigen ihr den Weg. Sie tun sich zu leuchtenden Ringen zusammen, durch die Marie hindurchsaust.

Auf einer dichten Nebelwolke halten sie an. Es scheint eine besondere Wolke zu sein. Man kann auf ihr gehen, wie auf einem schwebenden Teppich. In der Mitte des Wolkenteppichs steht eine kleine Rakete. Die Würmchen fliegen helle Kreise um das strahlend blaue Turbo-Raumschiff und deuten auf die gelbe Tür. 

Marie landet behutsam auf dem weichen Boden. Wem die Rakete wohl gehört? Vorsichtig klopft sie an die Tür. „Hallo?“

Ein Riesenglühwürmchen, so groß wie Marie selbst, öffnet ihr. „Hallo Marie. Schön, dass du da bist. Ich bin Glünnar.“ Marie erschrickt und hüpft zurück.

„Hab keine Angst, Marie, ich bin sehr freundlich!“

 „Woher kennst du meinen Namen?“

„Na, meine Würmchenfreunde haben dich selbstverständlich angekündigt. Du willst zum Mond fliegen, habe ich gehört?“

„Ja, wenn das geht?“

„Natürlich!“ Glünnar strahlt. Er leuchtet jetzt wirklich sehr hell.

„Dauert das sehr lang?“, fragt Marie vorsichtshalber. Schließlich sollen ihre Eltern sich keine Sorgen machen.

„Das kommt drauf an, wie lange du dort bleiben möchtest. Traumreisen sind immer so lang, wie es für die Reisenden gut passt“, beruhigt der große Glühwurm Marie.

„Okay, dann lass uns losfliegen!“ Kaum hat sie den Satz ausgesprochen, fühlt sie sich, als hätte sie tausend Glühwürmchen in ihrem Bauch.

Glünnar reicht ihr die Hand und hilft ihr in die Rakete. Kaum tritt sie in die Rakete ein macht es Plopp und Marie ist wieder ohne Seifenblasenhelm. Glünnar schwingt sich gekonnt auf seinen lila Stoffsessel im Cockpit. „Halt dich fest Marie“, sagt er und startet den Motor. Um sie herum beginnt alles zu wackeln und zu beben. Schnell setzt Marie sich auf den gelben Sessel neben Glünnar und schnallt sich an. Mit einem lauten Rauschen heben die Zwei mit der Turborakete von der Wolke ab. „Juhuuuu“, ruft Marie und reißt die Arme hoch bis zur Decke. Dann ist sie erstmal sprachlos und staunt, wie leise die Rakete ist, wenn sie erstmal durch die Luft fliegt.

„Ab dieser Höhe musst du einen richtigen Helm aufsetzen, damit du gut Luft bekommst“, erklärt Glünnar und gibt ihr einen. „Wir nähern uns einer neuen Hemisphäre. So nennt man die Luftschicht, in der alles schwerelos ist. Hier reicht die Luft zum Atmen nicht aus.“ Marie setzt den kugelförmigen Plastikhelm auf. Er sieht dem Seifenblasenhelm sehr ähnlich, allerdings bekommt sie darin tatsächlich besser Luft und es kitzelt darunter auch nicht so.

Und dann passiert es: Marie hebt langsam vom Sessel ab und wird nur noch von ihrem Gurt gehalten. Es fühlt sich an, als gäbe es gar kein oben und unten mehr. Dann schaut Marie aus dem Fenster.

„Wow“, staunt Marie. „Wie cool ist das denn? Hier sieht es ja aus wie im Weltall.“

Glünnar lacht. „Wir sind ja auch im Weltall.“

„Und, wo ist der Mond?“, fragt Marie.

Glünnar zeigt auf eine riesige Kugel, die voller Krater ist und von der Sonne angeleuchtet wird. Marie staunt und weiß eine Weile gar nicht, was sie sagen soll. Nach einer Weile fragt sie: „Kann man von hier aus auch die Erde sehen?“

Von hier oben sieht die Welt aus wie eine Murmel

„Ja, von dem anderen Fenster aus. Aber von hier oben sieht die Erde winzig aus. Gerade mal so groß wie eine Murmel.“

Marie zwinkert mehrmals mit den Augen, um sich dieses Bild so gut sie kann einzuprägen. Von dieser Aussicht möchte sie noch öfter träumen.

Marie gähnt laut und spürt, wie müde sie mittlerweile ist. „Na, ich bring dich jetzt wohl besser wieder zurück, oder?“, fragt Glünnar.

„Schon?“, fragt Marie.

Glünnar nickt. „Du kannst ja jederzeit wiederkommen.“

Marie lächelt. Tatsächlich freut sie sich gerade sehr auf ihr kuscheliges Bett.

„Bist du bereit? Dann schließe einfach deine Augen.“ Kaum hat sie ihre Augenlider geschlossen, erklingt ein lustiges Geräusch. „Schwuuuuaaaawuuupp.“ Um sie herum fühlt sich plötzlich alles ganz weich an. Für ein paar Sekunden lang glaubt Marie, dass sie jemand trägt.

„Mach’s gut, Marie“, hört sie wie Glünnar sich aus der Ferne von ihr verabschiedet. Ganz leise hört sie ihre eigene Stimme murmeln, so als würde sie im Schlaf sprechen: „Tschüss, Glünnar. Bis bald.“ Als sie die Augen wieder öffnet, liegt sie in ihrem Bett unter der kuscheligen Decke. Hatte sie das etwa alles nur geträumt? Sie krabbelt aus dem Bett und läuft zum Balkon. Ihre Seifenblasensammlung steht noch immer auf dem Tisch und die Lampionkette darüber leuchtete. Eines ihrer Flässchen ist allerdings geöffnet. Marie geht auf den Balkon und schraubt den Deckel auf die Flasche. Dann packt sie die Sammlung in ihre Kiste und nimmt sie mit in ihr Zimmer. Dann hört sie Schritte auf dem Flur.

Marie schlüpft schnell wieder in ihr Bett und deckt sich zu. Ihr Papa öffnet leise die Zimmertür und schaut zu ihrem Bett. „Du bist ja noch wach. Hast du schlecht geträumt?“ Marie schüttelt den Kopf und gähnt laut. „Nee, nee, Papa. Ich habe super geträumt. Ich musste nur noch kurz meine Seifenblasen vom Balkon holen.“

„Das hast du doch schon gestern Abend gemacht.“ Aber da ist Marie schon eingeschlafen. Papa streichelt ihr über den Kopf und gibt ihr einen Kuss. „Gute Nacht, Marie.“

*Wer Lust hat, kann auch den Namen seines eigenen Kindes einsetzen.

Empfohlene Artikel